Lyrischer Wille ist ein vielsprachiges literarisches Übersetzungsprojekt.

 

Vor dem Hintergrund des unsere Gesellschaften durchdringenden Un-Willens, aus dem Schatten der selbst konstruierten Homogenität zu treten und mit Diversität offen und feinfühlig umzugehen, will Lyrischer Wille auf literarischer Ebene Möglichkeitsräume eröffnen, um Barrieren zu überwinden und sich in einem Miteinander auf Augenhöhe zu begegnen.

 

Bei Lyrischer Wille begegnen sich Autor*innen unterschiedlichster Sprachen und übersetzen sich im Rahmen von Übersetzungszyklen (Übersetzung ➣ Übersetzung ➣ Übersetzung). Die übersetzende Person kennt nur die jeweilige Vorgängerversion und hat die Anweisung, diese in die eigene Sprache zu übersetzen, wie auch immer die geartet sein mag. Dabei kommt es vor, dass die Übersetzer:innen aus Sprachen übersetzen müssen, die sie nicht verstehen. Aber was heißt das eigentlich, „verstehen“? Lyrischer Wille will zeigen, dass die Arten und Weisen des Verstehens, der Annäherung, der Begegnung, des Austauschs erstaunlich vielfältig sein können. Dass zwischen zwei verschiedenen Sprachen nur ein vermeintliches Unverständnis herrscht und dass das Verständnis zwischen zwei gleichen Sprachen nur ein sehr relatives ist. Dass alles möglich wird – wenn es jemand will.

 

Die Literatur, insbesondere die Lyrik, ist imstande, diese Prozesse auf außergewöhnliche Weise zu veranschaulichen. Ihre Verfahrensweisen und Methoden der Übersetzung zwischen wagnisreichem Experiment und behutsamer Deutung, zwischen pragmatischer Setzung und spielerischer Verwandlung können verblüffend, erhellend und lehrreich sein. Sie können als Impulse für ein gesellschaftliches Zusammenleben gelesen werden, in dem die Angst vor dem „Fremden“ und „Un-Übersetzbaren“ keine Rolle mehr spielt.

 

Nicht zuletzt will Lyrischer Wille sichtbar machen, welch sprachliche Vielfalt in der Literaturlandschaft eines Landes existiert, bzw. existieren könnte, wenn sie eine Öffentlichkeit bekäme. Viel zu oft liegt der Fokus ausschließlich auf literarischen Erzeugnissen in der sogenannten Landessprache, viel zu wenig Raum bekommen Autor:innen, die sich nicht dieser Sprache bedienen.


Im Herbst 2018 erschien das erste Buch im folio Verlag (Wien/Bozen) unter dem Titel Lyrischer Wille, Poesie einer multilingualen Gesellschaft. Es versammelt 7 Gedichtszyklen, in denen sich 55 Autor:innen aus dem Raum Südtirol in 15 Sprachen übersetzen. Der Fokus lag dabei auf die Vielsprachigkeit in einem kleinen geographischen Kontext. Ein Ausschnitt des Buches (Zyklus #3) wurde als Audio-Installation bei diversen Festivals hörbar gemacht und kann hier als Audio angehört werden.

 

Ausgehend vom ersten Buch wurde die Idee des Lyrischen Willens von 2018 bis 2020 im Rahmen von Live-Formaten weitergeführt.

 

2021 arbeiteten Arno Dejaco und Matthias Vieider gemeinsam mit Studierenden der Universitäten in Turin, Neapel und Aix-en-Provence an weiteren Übersetzungszyklen. Nach vielen Gesprächen über den Begriff des Verstehens und den Möglichkeiten von Literatur und Mehrsprachigkeit bildeten die Studierenden vier Gruppen und kuratierten in Folge je einen Übersetzungszyklus ausgehend von Gedichten von Barbara Hundegger, Semier Insayif, Anja Utler und Seda Tunç. Sie machten sich in ihrem Umfeld auf die Suche nach Autor:innen unterschiedlichster Sprachen und begleiteten die Übersetzungsprozesse. Die dabei entstandenen Ergebnisse erscheinen im Frühjahr 2022 als Buch im alphabeta Verlag (Bozen) unter dem Titel Volontà poétique, Poetry of a multilingual society.


Lyrischer Wille wird konzipiert und koordiniert von Matthias Vieider und Arno Dejaco und unterstützt von der Südtiroler Autor:innenvereinigung und dem Europäischen Zentrum für Literatur und Übersetzung ZeLt. Hauptfördergeber ist das Amt für deutsche Kultur der Autonomen Provinz Bozen.